Grand Café Europa
Theater mit 80 Jugendlichen
Regie Ruth Messing
künstlerischer Leiter/ Choreographie
David Williams
Video Stefano di Buduo
11.Juli2015 Stadttheater Ingolstadt
Stiftung Jugend fragt e.V.
„Grand Café Europa“ ist das zehnte Jugendtheater im Jugendkultursommer der „Stiftung Jugend fragt e.V.“ in Ingolstadt in Folge, mit der Zielsetzung Integration,
Inklusion und Internationalität.
Die ca. 80 beteiligten Jugendlichen sind von sehr unterschiedlicher kultureller und gesellschaftlicher Herkunft und kommen aus unterschiedlichen Schularten. Wieder
sind Jugendliche von zwei Mittelschulen, einer Realschule, einem Päd. Förderzentrum, einem Gymnasium und Auszubildende von AUDI im Boot. Zum vierten Mal ist außerdem eine Gruppe Jugendlicher mit
geistigen Handicaps aus dem Caritas-Zentrum St. Vinzenz beteiligt. Seit 2010 sind Jugendliche aus Ingolstadts Partnerstädten einbezogen. Heuer kommen etwa 30 Jugendliche aus Györ, Murska Sobota
und Carrara nach Ingolstadt.
Wir werden mit „Grand Café Europa“ ein Gastspiel in Carrara geben!
„Grand Café Europa“ verzichtet auf eine literarische Vorlage. Gemeinsam mit den Jugendlichen greifen David Williams und Ruth Messing Grundthemen des 20.
Jahrhunderts wie Krieg, Migration oder Widerstand auf. „Grand Café Europa“ ist laut David Williams „ein Schmelztiegel unterschiedlicher Geschichten, ein Treffpunkt für zufällige Begegnungen, ein
Ort des Innehaltens, eine Zuflucht in den Stürmen der Geschichte, ein Marktplatz der Illusionen, eine Heimat für Heimatlose, es ist Rednerbühne und vorderste Front einer Revolte - oder ein
Rastplatz, um die Welt vorbeiziehen zu sehen, während man einen Cappuccino trinkt...“
Durch Bewegung und Tanz, Theaterszenen und Videoprojektionen entsteht ein Panorama europäischer Geschichten.
Fotos: Franz Bernecker
Video: David Williams
PRESSE
Donaukurier, 12.07.2015
Bewegt durch die Geschichte
Ingolstadt (DK) Regen. Unablässig Regen. In langen Lichtlinien fällt er über die Bühne, auf das ziellos wandernde Mädchen mit Regenschirm, auf die Menschen, die da
in dieser unwirtlichen Welt zu kurzen paarhaften Begegnungen zusammenkommen.
Recht trostlos ist das alles – und doch: Es warten bessere Zeiten! Solche, in denen große Blumen auf dem Bühnenboden blühen, psychedelische Muster über den
Hintergrund tanzen und eine fröhliche, 80-köpfige Gesellschaft aufmüpfig und bewegt das Leben angeht. Später auch das: ein herrenloser Rucksack und kollektiver Schrecken – bis sich unbefangen der
Besitzer meldet. Und eine geschlossene Menge mit Transparenten und Plakaten, die demonstrierend auszieht aus dem Großen Haus des Stadttheaters. Zuletzt aber stehen wieder alle auf der Bühne und
fordern „Cappuccino!!“, „Latte!“ vom völlig überfordert durch die Menge taumelnden Ober.
The Grand Café Europa
Schlussszene im „Grand Café Europa“. Jenem Ort, an dem vor einer Stunde ein Heer von Kellnern hinter halbtransparenten Wänden sich gläserputzend vorbereitete auf die Öffnung des Lokals. Und der
Geschichte: Quer durch die letzten 150 Jahre führt das diesjährige Jugendkulturprojekt in Ingolstadt – es ist das zehnte und damit Jubiläum –, führt durch Revolutionen, Industrialisierung,
Kriege, Vertreibung, durch Wiederaufbau, Widerstand, Wiedervereinigung bis hin ins Jetzt, zur Terrorangst heutiger Tage. Nicht pädagogisch tut es das und nicht belehrend: Einen assoziativen
Bilderbogen statt eine Geschichtsstunde haben Regisseurin Ruth Messing, Choreograf David Williams und die 80 jugendlichen Protagonisten miteinander als Eigenproduktion erarbeitet. Die Kids
zwischen 12 und 19 Jahren stammen, wie üblich bei dem Inklusionsprojekt, aus Ingolstädter Gymnasien, Realschulen, Mittelschulen und Förderzentren, aus den Ausbildungswerkstätten von Audi – und
aus verschiedenen Schularten der Partnerstädte Carrara, Murska Sobota und Györ. Und sowieso aus aller Herren Länder. Kanada, Afghanistan, Türkei, Russland und und und . . . einen
Migrationshintergrund haben gut 60 Prozent der Ingolstädter Darsteller.
Dieses heterogene Ensemble in ein homogenes überzuführen, hat bereits zum dritten Mal der in Ingolstadt lebende Choreograf David Williams übernommen. „Wildwuchs“ und „Grenzenlos“ waren flotte und
an Jugendthemen orientierte Produktionen, nun wagte man sich mit Europas Geschichte an ein komplexes Thema. An Weltschicksal. An Ernst und Schwere. Und – an ein anderes Tempo. Nach dem
temperamentvollen Auftakt mit dem gläserputzenden Kellnervolk geht es prompt in media res, in lange, langsame, atmosphärisch dichte Einstellungen auf der in modernem Halbdunkel liegenden Bühne.
Monoton? Mitnichten.
Dafür sorgen die großen und kleinen, auch humorvollen Regieeinfälle der jugendtheatererfahrenen Regisseurin. Dafür sorgen Stefano Di Buduos grandiose, körperlose Videos, die aus der Bühne mal ein
Flower-Power-Land, mal graues Gefangenenlager, mal die Berliner Mauer machen. Dafür sorgt auch die Musik des Saarbrückener Klangkünstlers Bernd Wegener, der mit Percussioninstrumenten aller Art
interaktiv aufnimmt und weitertreibt, was da geschieht. Dafür sorgen aber erst recht die 80 jungen Darsteller.
Es ist eine Freude zu sehen, wie sie sich einfügen ins Ensemblespiel, selbst lange statische Sequenzen tragen, wie sie, bewährt geführt von David Williams, ihre Bewegungen und Gefühle individuell
ausloten können. Wer ist Einser-Gymnasiast, wer hat eine geistige Behinderung? Keine Unterschiede sind zu sehen im Bewegungsspiel des großen Teams, in dem offenbar jeder seinen Platz gefunden
hat. Die Zuschauer indes durften sich nicht nur daran freuen: Assoziative Bilder, atmophärischer Transport, Gänsehaut-Effekte machten aus dem Jugendkulturprojekt einen veritablen
Theaterabend.
Von Karin Derstroff