DER WESTEN
Konstantin Küspert
Bühne Laura Wallrafen
Kostüm Dirk Traufelder
Musik Malcolm Kemp
Dramaturgie Gesa Lolling
Mit
Julian Koechlin, Jonah Quast, Tommy Wiesner, Marco Wohlwend, Ognjen Koldzic
Was macht den Menschen erst zum Menschen? Geschichtsprofessor Yuval Noah Harari versucht in seinem Bestseller „Eine kurze Geschichte der Menschheit“, dieser dringenden Frage auf den Grund zu gehen, und stellt etliche Theorien vor, die des Rätsels Lösung sein könnten.
Die kognitive Revolution brachte etwas Bemerkenswertes hervor: die „fiktive Sprache“. Von all den wilden Tieren, die den Erdball bevölkern, ist einzig der Mensch in der Lage, sich Märchen und Mythen auszudenken und felsenfest an sie zu glauben. Was den Menschen stark macht und gleichzeitig in die Tiefe reißen kann, ist der kollektive Glaube an Erfundenes, Fiktives. Unsere erfundene Wirklichkeit, die wir in Begriffe wie Freiheit, Demokratie, Nation, Götter, Zivilisation und tausende mehr kleiden, bestimmt unser Dasein.
Der Westen – welch wunderbares Beispiel an geistiger Hochleistung, ist in diesem Begriff doch (fast) alles vereint, woran wir so gerne glauben möchten. Zugegeben, die Fiktion bröckelt seit längerem vor sich hin und so, wie wir einst Zeus aufgegeben haben, schreitet auch dieses Märchen langsam, aber stetig unserem Glaubensabgrund entgegen.
Dramatiker Konstantin Küspert verpasst dem zögerlichen Vorwärtsschreiten einen ordentlichen Schubs und gibt den Westen quasi zum Abschuss frei. All das Jahrhunderte lang Glorifizierte wird komplett auseinandergenommen, entmystifiziert und schlichtweg jeglichen Glanzes beraubt.
Man muss sich auf einen rasanten Ritt einlassen. Von Theodosius I., dem letzten Alleinherrscher des römischen Gesamtreiches, über Donald Trump – wobei man der Freiheitsstatue, Lucky Luke und Super Mario einen Besuch abstattet – landet man in einer Pestkolonie eines chinesischen Protektorats einer nicht allzu fernen Zukunft.
Dieses raffinierte Gewebe aus reellen und fiktiven Figuren des Abendlandes, die Küspert kongenial verflicht, wirkt wie ein Jahrmarkt der Illusionen; eine Idee, die Regisseurin Ruth Messing und ihr Team sehr treffend aufgreifen. Als stünde man vor einer ausgedienten Schaustellertruppe, alles etwas in die Jahre gekommen, der Lack ist ab, der Zauber greift nicht mehr. So durchquert die leicht zerfledderte Mannschaft in einer ausgedienten Wanne die Meere der Geschichte.
Umso glanzvoller ist die Darstellung besagter Truppe auf der Bühne. Julian Koechlin, Ognjen Koldzic, Tommy Wiesner sowie die beiden Gastdarsteller Marco Wohlwend und Jonah Quast stürzen sich mit Wonne in die Fluten der Jahrhunderte und karikieren bissig, aber nicht verbissen. Und mag die Inszenierung auch an der einen oder anderen Stelle etwas an der Grenze des Klamauks schrabbeln, so vermögen die Darsteller jedes Mal die Ruder herumzureißen und dem zum Brüllen Komischen eine Portion Ernst beizumischen – wie auch dem Besonnenen etwas drollig Ulkiges. Eine beachtliche Leistung, das Leben darzustellen, wie es ist: zum Heulen komisch.
In voller Schaustellerpracht (zumindest oben herum) begleitet Musiker Malcolm Kemp mit seiner Kirmesorgel das wundersame Geschehen und hüllt das Spiel in einen Klang- und Geräuschumhang der Extraklasse.
Wenn es einem nach und nach bewusst wird, dass dies im Grunde gar keine Satire, sondern mitunter die schlichte und umso traurigere Wahrheit ist, bleibt das Lachen, das sowohl Konstantin Küspert wie auch Regisseurin Ruth Messing bewusst und gekonnt herauskitzeln, halbgar im Hals stecken.
ENIKO KÜMMEL. MOVIEAACHEN, 07.05.2019
FOTOS Ludwig Koerfer