Sprich oder Stirb - Scheherazade ohne Worte

Eine Stückentwicklung von Ruth Messing und Tina Brüggemann

Theater der Stadt Aalen

Mit Alice Katharina Schmidt und Bernd Tauber

Musik Claus Wengenmayr

Dramaturgie Tina Brüggemann

Ausstattung Ana Tasic

Schablonendesign Britta Sturm

 

 

 

Es ist eine der ältesten und bekanntesten Geschichten: Eine junge Frau erzählt um ihr Leben. Denn der König, der sich von seiner Frau betrogen sah, lässt nun jede Nacht eine neue junge Frau zu sich kommen, um sich zu amüsieren und sie im Morgengrauen hinrichten zu lassen. Scheherazade, die sagenumwobene Protagonistin aus „1001 Nacht“, will das Grauen stoppen, geht selbst zum König und erzählt so spannende Geschichten, dass der König stets eine Fortsetzung hören möchte. Hinrichtung ausgesetzt. Dies ist die Rahmenhandlung für „Sprich oder Stirb“, anhand derer die KünstlerInnen so eigene wie universelle Geschichten entwickeln, als Grundlage nur uns allen bekannte Situationen: Liebesszenen, Verfolgungsjagden, Zweikämpfe und den Tod oder das Sterben. Eigens für Aalen und doch für alle Welt, deshalb: ohne Worte.

Theater der Zeit, Juni 2017

Vernetzte Kulturen-

Aalen, Baden-Baden, Ulm, Heilbronn – Eine Reise durch die baden-württembergische
Theaterlandschaft
 Elisabeth Maier

 

(...) Künstlerisch fordern Intendant Tonio Kleinknecht und seine Dramaturgin Tina Brüggemann ihr Publikum heraus. Ganz ohne verbale Sprache kommt die Stückentwicklung „Sprich oder stirb – Scheherazade ohne Worte“ aus. Doch die Körper der Schauspieler brennen und berichten vom Spiel um Macht zwischen Mann und Frau. Stark zeigt Bernd Tauber, wie die Macht des Mannes Zug um Zug bröckelt; während die Figur der jungen Frau, gespielt von Alice Katharina Schmidt, pausenlos „erzählt“, um ihr Leben zu retten. In Ruth Messings kluger Regie, deren Triebfeder
quälende Langsamkeit ist, bleibt sie gefesselt in ein schreckliches Schweigen. Die Zuschauer halten den Drahtseilakt aus, den die Künstler da auf der Bühne wagen. Ein Theater ganz ohne Worte? „So was habe ich noch nicht erlebt“, schwärmt eine Zuschauerin im Hinausgehen. Der Abend hat sie sichtlich verblüfft. Tonio Kleinknecht und sein Leitungsteam wollen auch wenig theatererfahrene Zuschauer vertraut machen mit neuen Sehweisen. Theater ohne Worte verstehen die Schwaben ebenso wie die Flüchtlinge aus aller Welt, die vor Krieg und Terror fliehen
und jetzt in der Kreisstadt auf der Ostalb ihren Platz finden müssen. (....)

 

 

Schwäbische Post vom 28. November 2016 von Wolfgang Nussbaumer

Triumph auf dem Hochseil

Überzeugend beredt durch die Kraft starker Bilder: „Sprich oder stirb – Scheherazade ohne Worte“ im Alten Rathaus in Aalen.

Wer wagt, gewinnt. Regisseurin Ruth Messing und Dramaturgin Tina Brüggemann haben mit ihrer Inszenierung „Sprich oder stirb – Scheherazade ohne Worte“ am Theater der Stadt Aalen viel gewagt – und viel gewonnen.

Scheherazade war die persische Prinzessin, die mit ihren Geschichten 1000 und einmal Nacht für Nacht ihren eigenen Hals und damit den vieler anderer Frauen gerettet hat. Vor dem Todesurteil jenes Königs, der aus Gram, Zorn und Enttäuschung über die Untreue seiner Gattin alle Frauen, die er ehelicht, nach einer Nacht über die Klinge springen lässt. Diese Scheherazade muss sich also den Mund fusselig geredet haben, um – eine für alle – ihr Leben zu retten. Ihr Trick: Sie lässt das Ende jeder Geschichte offen, damit der gnadenlose Herrscher neugierig bleibt.

 Wer wie in diesem selbst entwickelten Stück über den morgenländischen Mythenklassiker auf Worte verzichtet, muss bärenstarke Bilder finden. Geht das überhaupt? Werden sie in die Pantomimenfalle tappen? Gähn? Nein. Aus Elementen des Objekt- und Schattentheaters, des Stummfilms, des Comics und notwendigerweise der Pantomime basteln sie mit der Ausstatterin Ana Tasic in der Intimität des Studios im Alten Rathaus 70 komische, gruselige, groteske, bestürzende, traurige, augenzwinkernde, schlicht durch und durch poetische Bühnenminuten zusammen. Ein Salto auf dem Hochseil.

 Dieser gelingt ebenso wie jener, mit dem die hinreißend wandlungsfähige Scheherazade der Alice Katharina Schmidt in einem der Wettbewerbe, zu denen sie ihn herausfordert, den grantigen König zu düpieren versucht. Das Imperium schlägt natürlich zurück. Aber indem das zu Beginn so abgrundhässlich und gemein ins Publikum starrende blut- und sexgierige Monster des Bernd Tauber mehr und mehr dem Spieltrieb verfällt, verdrängen nach und nach Neugier, Staunen, Zögern, ein leises Lächeln und wissende Melancholie über einen Verlust die Fratze aus dem grau geschminkten Gesicht. Die hohe Kunst dabei ist, mimisch und gestisch deutlich zu sein, ohne den Charakter outrierend zu übertünchen.

 Mit welchen konkreten Bilderzählungen und Interaktionen dieses Unternehmen gelingt, einen Gewaltherrscher zu domestizieren, wollen wir nicht verraten. Das wäre Verrat. Ein Dritter muss jedoch noch erwähnt werden. Claus Wengenmayr verwandelt auf Klavier, diversem Schlagwerk, Tröten, Mundharmonika und Mundorgel und mit der eigenen Stimme in doppeltem Sinne spielend diese komplexe Versuchsanordnung in ein Gesamtkunstwerk.

SWR4

Aalener Kulturjournal

von Herbert Kullmann, 28. November 2016

"Sprich oder stirb - Scheherazade ohne Worte" 

Eine Erzählung ohne Worte? Spontan kommen Mendelssohn-Bartholdys "Lieder ohne Worte" in den Sinn, jene  klangvollen Klavierstücke, die in feinem Erzählton, erlesener Sprachlichkeit und lyrischer Melodik einer poetischen Idee folgen. Doch ist es auch möglich, ohne Worte eine wortreiche Geschichte zu erzählen? Regisseurin Ruth Messing und Dramaturgin Tina Brüggemann haben sich am Theater der Stadt Aalen einem solchen Wagnis unterworfen und sie haben - um es bereits vorab zu verraten - großartiges Bühnentheater inszeniert. Ein Stück, das unter die Haut geht, zumal sie sich einer Thematik annehmen, an der man sich sehr leicht auch die Finger hätte verbrennen können: der Gewalt gegen Frauen. 

Kurz nach dem Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen stand auf der Bühne im Alten Rathaus die Premiere an. Während Aalens adventlich geschmückte Gassen auf abendländische Kultur verweisen, will drinnen ein morgenländischer Mythenklassiker punkten. Einer, den jeder kennt, einer, der seiner erotischen Eindeutigkeit wegen immer wieder auf dem Index stand - "Tausendundeine Nacht". 

Dem Morden ein Ende bereiten 

Mittlerweile gehört die orientalische Erzählsammlung längst zum Fundus der Weltliteratur; als Rahmenerzählung fasziniert sie mit ihren zahlreichen Neben- und Untergeschichten noch immer.  Wortreich wird geschildert, wie Scheherazade, eine kluge junge Frau, um ihr Leben erzählen muss, denn bis zu ihrem Erscheinen wird dem König Nacht für Nacht eine neue Jungfrau zugeführt, die am Morgen danach umgebracht wird. Scheherazade, die Tochter des Wesirs, will Frau des Königs werden, um dieses Morden zu beenden. Ihr Plan, sie erzählt Geschichten und zwar so spannend, dass der König die Hinrichtung immer wieder aufschiebt, weil er  die Fortsetzungen hören will.

Während die Premierenzuschauer ihre Plätze einnehmen, sitzt einer bereits vornübergebeugt auf der in schwarzweiß gehaltenen Bühne: der  König (Bernd Tauber). Er selbst - weißgrau geschminkt - gleicht einer blutrünstigen Bestie, das Gesicht zur Fratze verzerrt, der Wahnsinn springt aus den Augen. Bereits zum Auftakt ein verstörendes wie eindringliches Bild, dem weitere folgen. 

Langsam steht er auf, in den Händen ein Brautschleier. Er schnüffelt, leckt daran, wirft ihn zu Boden. Die Nacht ist vorbei, die Braut von ihm ermordet. Die nächste Nacht, das nächste Opfer folgt. Das grausame Spiel wiederholt sich, wird zunehmend schneller, überschlägt sich, versinkt im Blutrausch.

 

Keine Sprache - nur Mimik und Gestik 

In ihrer Stückentwicklung erhalten Ruth Messing und Tina Brüggemann die Rahmenhandlung bis zum Auftritt der Tochter des Wesirs (Alice Katharina Schmidt). Verängstigt betritt sie die Bühne als ebenfalls dem Tode geweihte Braut. Allerdings hat sie rasch das Heft in der Hand, um ihren Plan umzusetzen, um endlose Geschichten zu erzählen. Hier setzt die Stückentwicklung ein. Messing entkernt den überlieferten Stoff, ersetzt ihn durch neue Inhalte und durch Geschichten ohne Worte. Die Schauspieler sind folglich zurückgeworfen auf Gestik und Mimik, welche die Sprache ersetzen, Emotionen überspitzt herauskristallisieren.

Der eigentliche Inhalt der Erzählung wird nebensächlich, es bleibt indes ein Gerüst aus Schmerz und Verzweiflung, pures Grauen wird so omnipräsent. Mit "Alles ist auf der Theaterwelt möglich: Man kann Figuren Fleisch werden lassen; aber auch Ängste und Gegebenheiten einer unsichtbaren Innenwelt vermögen körperliche Gegenwart zu gewinnen" charakterisiert einst Ionesco das absurde Theater, treffend jedoch auch für solch eine widersinnige Welt, wie sie die Szenen zeigen.

Intensiviert wird das Spiel durch die Musik (Claus Wengenmayr), welche eine tragende Rolle übernimmt, den Hochzeitsmarsch düster in Unglück verheißendes Moll zwingt, grelle Impulse setzt und zugleich die Geschichte strukturiert. Im Wechsel mit archaischen Lauten formt sie sich zu einem Geräuschspektakel, das immer wieder ins Chaos abgleitet, um eine auch körperlich spürbare gewalttätige Atmosphäre zu schaffen. Das Bühnengeschehen wird kommentiert oder gespiegelt.  Wolfsgeheul ist zu vernehmen, die Stimme wird zum Instrument. Unwillkürlich assoziiert man Hobbes´ "Der Mensch ist des Menschen Wolf". 

Der König erhebt sich zum Herrn über Leben und Tod. Tauber brilliert in dieser Rolle, spielt diese Kreatur ohne Maß, die mit einem Fingerschnippen nach Belieben Leben beendet. Die Frauen sind verschleiert, dadurch jeglicher Individualität beraubt, austauschbar, nur Geschlechtswesen. Des Königs Lust am Morden scheint noch größer als seine Geilheit. Sinnbildlich für das Verhältnis zwischen Mann und Frau in archaisch gewalttätigen Kulturen. "Honi soit qui mal y pense" - Beschämt sei, wer Übles dabei denkt! 

Messings Stückentwicklung konzentriert sich auf drei Kernszenen, deren erste die Zerstörung der Liebe durch Gewalt mit besonderer Dramatik überzeitlich thematisiert, in der Alice Katharina Schmidt das "Los der Frauen" (Goethe, "Iphigenie") rasend vor Verzweiflung herausschreit, während auf der Leinwand scherenschnittartig ( Britta Sturm) das abscheuliche Geschehen visualisiert wird:   die Hingabe zwischen Mann und Frau zerschossen und zerbombt. Ein aufwühlender Transfer in die Gegenwart. Auch beim Kampf um einen Laib Brot - oft gehalten wie ein Säugling, in Märchen Symbol für das Leben -  akzentuiert das Scherenschnitt-Schatten-Theater, forciert die hintergründige Aussage, appelliert wie die Klangkulisse an das Gefühl der Zuschauer.

 

Ohne Aussicht auf ein  Happyend

In der bestimmenden Szene ringt sich der König, gebannt von der Erzählung Scheherazades ein wenig  Menschlichkeit ab. Doch es ist zu spät. Entgegen dem Original von "Tausendundeine Nacht" entmachtet Scheherazade ihn, setzt sich selbst die Krone auf.  Den König zwingt sie unter den Schleier, lässt ihn  das Grauen der leidenden Frauen nacherleben. Kein Happyend folgt. Scheherazade heiratet den Schlächter nicht. Er bleibt ver- und zerstört zurück, während sie in eine ungewisse Zukunft aufbricht.

Stückentwicklung ist immer ein Wagnis. Oft fehlt ihnen die Tiefe. Bei "Sprich oder Stirb" gelingt dem Duo Messing/Brüggemann hingegen trotz oder gerade wegen des Verzichts  auf Sprache mitreißendes Theater. Scherenschnitt- und Schattentheater, Stummfilm, Comic und Pantomime verschmelzen zu einer unter die Haut gehenden Aufführung. Das ist nicht nur das Verdienst von Regisseurin und Dramaturgin, sondern auch dem glänzenden Spiel  von Alice Katharina Schmidt und Bernd Tauber zu verdanken.  Nicht vergessen werden dürfen zudem Ana Tasics stimmige Bühnenausstattung und Claus Wengenmayrs Talent.